Zusammenfassung des Urteils BES.2020.105 (AG.2020.477): Appellationsgericht
Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt hat das Strafverfahren gegen die Beschuldigte wegen Mietwuchers eingestellt, jedoch erging ein Strafbefehl wegen gewerbsmässigen Wuchers. Der Beschwerdeführer, ein ehemaliger Mieter, beschuldigte die Vermieterin nicht nur des Mietwuchers, sondern auch von Hausfriedensbruch, Nötigung und Diebstahl. Er beantragte die Fortführung des Verfahrens, die Aufhebung der Einstellungsverfügung und die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung. Das Appellationsgericht Basel-Stadt hat der Beschwerde stattgegeben, die Einstellungsverfügung aufgehoben und die Staatsanwaltschaft angewiesen, das Strafverfahren weiterzuführen. Die Gerichtskosten werden dem Staat auferlegt.
Kanton: | BS |
Fallnummer: | BES.2020.105 (AG.2020.477) |
Instanz: | Appellationsgericht |
Abteilung: |
Datum: | 14.08.2020 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | Verfahrenseinstellung |
Schlagwörter: | Staatsanwaltschaft; Akten; Beschuldigte; Basel; Beschwerdeführers; Einstellung; Verfahren; Befragung; Basel-Stadt; Anwalt; Anzeige; Verfahrens; Einstellungsverfügung; Frist; Sachverhalt; Liegenschaften; Aufforderung; Kamera; Erwägungen; Appellationsgericht; Einzelgericht; Verfügung; Strasse; Hausfriedensbruch; Nötigung; Diebstahl; Aneignung; Kameras; Zivilkläger |
Rechtsnorm: | Art. 120 StPO ;Art. 42 BGG ;Art. 48 BGG ;Art. 6 StPO ; |
Referenz BGE: | 139 IV 261; |
Kommentar: | - |
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt Einzelgericht |
BES.2020.105
ENTSCHEID
vom 14. August 2020
Mitwirkende
lic. iur. Gabriella Matefi
und Gerichtsschreiber Dr. Urs Thönen
Beteiligte
A____ Beschwerdeführer
c/o [...]
vertreten durch [...], Advokat,
[...]
gegen
Staatsanwaltschaft Basel-Stadt Beschwerdegegnerin 1
Binningerstrasse 21, 4001 Basel
B____ Beschwerdegegnerin 2
[...] Beschuldigte
Gegenstand
Beschwerde gegen eine Verfügung der Staatsanwaltschaft
vom 30. April 2020
betreffend Verfahrenseinstellung
Sachverhalt
B____ (Beschuldigte) ist Eigentümerin und Vermieterin zweier Liegenschaften an der [...]strasse [...] in Basel. Im Zusammenhang mit der Vermietung dieser Liegenschaften ermittelte die Kantonspolizei Basel-Stadt seit Januar 2017 gegen die Beschuldigte wegen Verdachts des Mietwuchers (elektronische Aktendatei [nachfolgend: Akten] S.106 ff., 245 ff.). In diesem Zusammenhang verschickte die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt an die Bewohnerinnen und Bewohner der beiden Liegenschaften am 14. November 2019 einen Fragebogen.
A____ (Beschwerdeführer) war Mieter eines Zimmers an der [...]strasse[...]. Er war amtlich nicht an der Adresse gemeldet (Akten S. 427 f.), hat aber von den Fragebögen erfahren und über seinen Anwalt am 18. Dezember 2019 Strafanzeige gestellt. Er wirft der Beschuldigten nicht nur Wucher, sondern Hausfriedensbruch, Nötigung, Diebstahl und eventuell unrechtmässige Aneignung vor (Akten S.655ff.). Dabei macht er geltend, er habe für die Beschuldigte diverse Arbeiten ausgeführt, namentlich das Auswechseln von Zylinderschlössern und das Anbringen von Kameras. Die ersten Arbeiten habe sie ihm bezahlt, die späteren nicht. Als er deswegen den Mietzins zurückbehalten habe, habe ihm die Beschuldigte die Räumung der Wohnung angedroht. Sie sei unberechtigt in seine Wohnung eingedrungen, habe seine Türe aufgebrochen, das Zylinderschloss gewechselt und behalte jetzt sein Eigentum zurück. Der Beschwerdeführer beantragte in beweismässiger Hinsicht u.a. seine Befragung als Auskunftsperson und die Besichtigung der von ihm ausgeführten Arbeiten vor Ort. Ebenso erklärte er ausdrücklich, sich sowohl als Straf- als auch als Zivilkläger zu konstituieren (Akten S. 656).
Mit Schreiben vom 20. Dezember 2019 lehnte die Staatsanwaltschaft den Antrag des Beschwerdeführers auf Durchführung einer Hausdurchsuchung in den beiden Liegenschaften ab und verwies ihn dafür auf den Zivilweg. Die Aufforderung der Staatsanwaltschaft vom 4. Februar 2020, der Beschwerdeführer möge das Datum der behaupteten Räumung mitteilen und eine Aufstellung der fehlenden Wertgegenstände sowie schriftliche Aufträge betreffend Ersatz des Schlosszylinders und Installation der Kamera einreichen, blieb unbeantwortet.
Am 21. April 2020 kündigte die Staatsanwaltschaft den Abschluss der Untersuchung und die Einstellung des Verfahrens mangels Beweises unter Fristsetzung für Beweisanträge bis zum 27. April 2020 an.
Mit Verfügung vom 30. April 2020 (Einstellungsverfügung) stellte die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren gegen die Beschuldigte mangels Beweises des Tatbestands ein und verlegte dessen Kosten zu Lasten des Staates. Damit wurden die Vorwürfe des mehrfachen Hausfriedensbruchs, der Nötigung, des Diebstahls und eventuell der unrechtmässigen Aneignung erledigt. Indessen erging am gleichen Tag ein Strafbefehl gegen die Beschuldigte wegen gewerbsmässigen Wuchers (Akten S.686 ff.).
Mit Beschwerde vom 18. März 2020 beantragt der Beschwerdeführer die kostenfällige Aufhebung der Einstellungsverfügung; dementsprechend sei die Angelegenheit zur Anklageerhebung gegen die Beschuldigte wegen Hausfriedensbruchs, Nötigung, Diebstahls und eventuell unrechtmässiger Aneignung zu seinem Nachteil sowie Amtsanmassung an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Ferner ersucht der Beschwerdeführer um Akteneinsicht und um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung.
Die Staatsanwaltschaft beantragt mit Vernehmlassung vom 22. Juni 2020 die kostenfällige Abweisung der Beschwerde. Sie macht geltend, aufgrund der unterbliebenen Rückmeldung des Beschwerdeführers und mangels weiterer Angaben zum beanzeigten Sachverhalt habe sie nach mehr als zwei Monaten davon ausgehen dürfen, dass der Beschwerdeführer von seiner Strafanzeige Abstand genommen habe. Die Beschuldigte hat sich nicht vernehmen lassen. Auf die Einholung einer Replik des Beschwerdeführers wurde verzichtet.
Das Beschwerdegericht hat die Akten der Staatsanwaltschaft in elektronischer Form (als PDF-Datei) beigezogen. Die Einzelheiten der Standpunkte ergeben sich, soweit sie für den Entscheid von Bedeutung sind, aus den nachfolgenden Erwägungen.
Erwägungen
1.1 Gegen Einstellungsverfügungen der Staatsanwaltschaft kann innert zehn Tagen Beschwerde erhoben werden (Art.322 Abs.2 und 393 Abs.1 lit.a der Strafprozessordnung, StPO, SR312.0). Zu deren Beurteilung ist das Appellationsgericht grundsätzlich als Einzelgericht zuständig (§§88 Abs.1 und 93 Abs.1 Ziff.1 des Gerichtsorganisationsgesetzes, GOG, SG 154.100). Die Kognition des Beschwerdegerichts ist frei und nicht auf Willkür beschränkt (Art.393 Abs.2 StPO).
1.2 Der Beschwerdeführer ist als Anzeigesteller und Privatkläger durch die Verfahrenseinstellung selbst und unmittelbar in seinen Interessen tangiert, da die beanzeigten Delikte zu seinem Nachteil begangen worden sein sollen. Entsprechend hat er ein rechtlich geschütztes Interesse im Sinne von Art.382 Abs.1 StPO an der Aufhebung der Einstellungsverfügung, womit seine Beschwerdebefugnis gegeben ist. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
2.
2.1 Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren mangels Beweises ein (Dispositiv Ziff.1). Inhaltlich begründete sie jedoch die Einstellung mit dem fehlenden Interesse des Beschwerdeführers, da er auf ihre Aufforderung vom 4. Februar 2020 nicht reagiert habe.
2.2 Der Beschwerdeführer hat ein Schreiben der Staatsanwaltschaft nicht beantwortet. Darin kann jedoch kein Desinteresse gar einer Desinteresseerklärung im Sinne von Art. 120 StPO erblickt werden. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers hatte zuvor zwei Beweisanträge gestellt: Mit Strafanzeige vom 18. September 2019 (S. 2, Akten S.656) beantragte er seine Befragung als Auskunftsperson. Weiter beantragte er die Durchführung einer Hausdurchsuchung zur Klärung, ob sich die durch die Beschuldigte zurückbehaltenen persönlichen Effekte noch vor Ort befänden, und zur Besichtigung der von ihm installierten Kameras. Diese Anträge scheinen zur Abklärung des Sachverhalts sinnvoll: Der Beschwerdeführer könnte vor Ort die von ihm vorgenommenen Arbeiten an den Zylinderschlössern und den Kameras zeigen. In der Befragung hätte er Gelegenheit, seine Strafanzeige persönlich zu erläutern.
2.3 Statt der Befragung hat die Staatsanwaltschaft ihn bzw. seinen Anwalt mit Schreiben vom 4. Februar 2020 aufgefordert, schriftliche Auskünfte zu erteilen. Dieses Schreiben wurde dem Anwalt mit eingeschriebener Post zugestellt (Akten S.674). Auch diese Art von Sachverhaltserhebung erscheint sinnvoll, und es ist schwer verständlich, warum der Anwalt auf dieses Schreiben nicht reagiert hat, nachdem sein Antrag auf Hausdurchsuchung (mit der entsprechenden Gelegenheit zum Augenschein) mit Schreiben der Staatsanwaltschaft vom 20. Dezember 2019 bereits abgelehnt worden war (Akten S. 673).
Immerhin ist aber festzustellen, dass die Aufforderung zur schriftlichen Auskunftserteilung vom 4. Februar 2020 keinerlei Frist beinhaltete. Unter diesen Umständen darf erwartet werden, dass die Aufforderung wiederholt und allenfalls mit dem Hinweis versehen würde, dass sonst das Verfahren einzustellen wäre. Dies gebieten zum einen der Untersuchungsgrundsatz (Art. 6 StPO) und zum anderen der Grundsatz des Handelns nach Treu und Glauben (Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO).
2.4 Im Weiteren dürfte eine persönliche Befragung des Beschwerdeführers, wie von ihm beantragt, mit Bestimmtheit raschere Klärung zu den gestellten und allfälligen weiteren Fragen bringen, als eine schriftliche Korrespondenz. Der Beschwerdeführer macht geltend, er könne nicht genau sagen, was er in seinem Zimmer zurückgelassen habe, da er dieses nicht mehr habe betreten können. Dieser Standpunkt ist nach der allgemeinen Lebenserfahrung nicht abwegig. Allerdings sollte er sich aber an wichtige bzw. wertvolle Gegenstände erinnern können, da er diese heute wohl vermissen würde. Dies alles wäre in einer Befragung sicherlich einfacher zu klären als auf schriftlichem Weg.
2.5 Treuwidrig erscheint auch die Fristsetzung in der Ankündigung des Abschlusses der Strafuntersuchung vom 21. April 2020 durch die Staatsanwaltschaft (Akten S.680). Obwohl diese Verfügung frühestens am Mittwoch, 22. April 2020, beim Rechtsvertreter eingehen konnte, wurde der Fristablauf für Beweisanträge bereits auf den darauffolgenden Montag, 27. April 2020, angesetzt. Dem Vertreter verblieben somit im besten Fall drei Arbeitstage (23., 24. und 27. April 2020), um Anträge zu stellen. Zudem wurde mit der Ankündigung übersehen, dass der Beschwerdeführer sich mit der Strafanzeige vom 18. Dezember 2019 (S. 2, Akten S. 656) als Straf- und Zivilkläger konstituiert hatte, was die Staatsanwaltschaft ausdrücklich zur Kenntnis genommen hatte (Schreiben vom 20. Dezember 2019; Akten S. 673). Die Androhung im Schreiben vom 21. April 2020, den Status als Zivilkläger zu verlieren, ist somit offensichtlich unzutreffend.
3.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen und die Untersuchung gemäss den Erwägungen weiterzuführen.
Dem Anwalt des obsiegenden Beschwerdeführers ist ein Honorar von CHF 800.- zuzüglich CHF 50.- Spesen und 7,7% Mehrwertsteuer von CHF 61.60 auszurichten. Der angemessene Aufwand wird auf rund vier Arbeitsstunden geschätzt. Bei beantragter amtlicher Verteidigung wird der Aufwand unabhängig vom Verfahrensausgang zum amtlichen Tarif von CHF 200.- entschädigt (BGE 139 IV 261 E. 2; AGE BES.2020.71 vom 21. April 2020 E. 3.2, BES.2019.106 vom 31. Oktober 2019 E. 5).
Sofern der Beschwerdeführer an der beantragten Einsicht in die Verfahrensakten weiterhin interessiert ist, hat er sich dafür an die Staatsanwaltschaft zu wenden.
Demgemäss erkennt das Appellationsgericht (Einzelgericht):
://: In Gutheissung der Beschwerde wird die Einstellungsverfügung vom 30. April 2020 aufgehoben und die Staatsanwaltschaft wird angewiesen, das Strafverfahren im Sinne der Erwägungen weiterzuführen.
Für das Beschwerdeverfahren werden keine Kosten erhoben.
Dem Beschwerdeführer wird aus der Gerichtskasse eine Parteientschädigung von CHF 911.60 ausgerichtet, einschliesslich Auslagen und Mehrwertsteuer.
Mitteilung an:
- Beschwerdeführer
- Staatsanwaltschaft Basel-Stadt
- Beschuldigte
APPELLATIONSGERICHT BASEL-STADT
Die Präsidentin Der Gerichtsschreiber
lic. iur. Gabriella Matefi Dr. Urs Thönen
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Entscheid kann unter den Voraussetzungen von Art. 78 ff. des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) innert 30 Tagen seit schriftlicher Eröffnung Beschwerde in Strafsachen erhoben werden. Die Beschwerdeschrift muss spätestens am letzten Tag der Frist beim Bundesgericht (1000 Lausanne 14) eingereicht zu dessen Handen der Schweizerischen Post einer diplomatischen konsularischen Vertretung der Schweiz im Ausland übergeben werden (Art. 48 Abs. 1 BGG). Für die Anforderungen an den Inhalt der Beschwerdeschrift wird auf Art. 42 BGG verwiesen. Über die Zulässigkeit des Rechtsmittels entscheidet das Bundesgericht.
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